Kaiser
Wilhelm II. zum Jahrestag der Kriegserklärung
Kaiser
Wilhelm II.
Berlin,
31. Juli.
Der "Reichsanzeiger" veröffentlicht in einer Sonderausgabe
folgende Kundgebung des Kaisers:
An
das deutsche Volk.
Ein
Jahr ist verflossen, seitdem Ich das deutsche Volk zu den Waffen rufen
mußte. Eine unerhört blutige Zeit kam über Europa und die Welt. Vor
Gott und der Geschichte ist Mein Gewissen rein: Ich habe den Krieg
nicht gewollt. Nach Vorbereitungen eines ganzen Jahrzehnts glaubte
der Verband der Mächte, denen Deutschland zu groß geworden war, den
Augenblick gekommen, um das in gerechter Sache treu zu seinen österreichisch-ungarischen
Bundesgenossen stehende Reich zu demütigen oder in einem übermächtigen
Ringe zu erdrücken.
Nicht Eroberungslust hat uns, wie Ich schon vor einem Jahre verkündete,
in den Krieg getrieben. Als in den Augusttagen alle Waffenfähigen
zu den Fahnen eilten und die Truppen hinauszogen in den Verteidigungskampf,
fühlte jeder Deutsche auf dem Erdball, nach dem einmütigen Beispiele
des Reichstags, daß für die höchsten Güter der Nation, ihr Leben und
ihre Freiheit, gefochten werden mußte. Was uns bevorstand, wenn es
fremder Gewalt gelang, das Geschick unseres Volkes und Europas zu
bestimmen, das haben die Drangsale Meiner lieben Provinz Ostpreußen
gezeigt. Durch das Bewusstsein des aufgedrungenen Kampfes ward das
Wunder vollbracht: der politische Meinungsstreit verstummte, alte
Gegner fingen an, sich zu verstehen und zu achten, der Geist treuer
Gemeinschaft erfüllte alle Volksgenossen.
Voll Dank dürfen wir heute sagen: Gott war mit uns. Die feindlichen
Heere, die sich vermaßen, in wenigen Monaten in Berlin einzuziehen,
sind mit wuchtigen Schlägen im Westen und im Osten weit zurückgetrieben.
Zahllose Schlachtfelder in den verschiedensten Teilen Europas, Seegefechte
an nahen und fernsten Gestaden bezeugen, was deutscher Ingrimm in
der Notwehr und deutsche Kriegskunst vermögen. Keine Vergewaltigung
völkerrechtlicher Satzungen durch unsere Feinde war imstande, die
wirtschaftlichen Grundlagen unserer Kriegführung zu erschüttern. Staat
und Gemeinden, Landwirtschaft, Gewerbefleiß und Handel, Wissenschaft
und Technik wetteiferten, die Kriegsnöte zu lindern. Verständnisvoll
für notwendige Eingriffe in den freien Warenverkehr, ganz hingegeben
der Sorge für die Brüder im Felde, spannte die Bevölkerung daheim
alle ihre Kräfte an zur Abwehr der gemeinsamen Gefahr.
Mit tiefer Dankbarkeit gedenkt heute und immerdar das Vaterland seiner
Kämpfer, derer, die todesmutig dem Feind die Stirne bieten, derer,
die wund oder krank zurückmeldeten, derer vor allem, die in fremder
Erde oder auf dem Grund des Meeres vom Kampfe ausruhen. Mit den Müttern
und Vätern, den Witwen und Waisen empfinde Ich den Schmerz um die
Lieben, die fürs Vaterland starben.
Innere Stärke und einheitlicher nationaler Wille im Geiste der Schöpfer
des Reichs verbürgen den Sieg. Die Deiche, die sie in der Voraussicht
errichteten, daß wir noch einmal zu verteidigen hätten, was wir 1870
errangen, haben der großen Sturmflut der Weltgeschichte getrotzt.
Nach den beispiellosen Beweisen von persönlicher Tüchtigkeit und nationaler
Lebenskraft hege Ich die frohe Zuversicht, daß das deutsche Volk,
die im Kriege erlebten Läuterungen treu bewahrend, auf erprobten alten
und auf vertrauensvoll betretenen neuen Bahnen weiter in Bildung und
Gesittung rüstig vorwärts schreiten wird.
Großes Erleben macht ehrfürchtig und im Herzen fest. In heroischen
Taten und Leiden harren wir ohne Wanken aus, bis der Friede kommt.
Ein Friede, der uns die notwendigen militärischen, politischen und
wirtschaftlichen Sicherheiten für die Zukunft bietet und die Bedingungen
erfüllt zur ungehemmten Entfaltung unserer schaffenden Kräfte in der
Heimat und auf dem freien Meere.
So werden wir den großen Kampf für Deutschlands Recht und Freiheit,
wie lange er auch dauern mag, in Ehren bestehen und vor Gott, der
unsere Waffen weiter segnen wolle, des Sieges würdig sein.
Großes Hauptquartier, den 31. Juli 1915.
Wilhelm
I. R. 1)
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