Die
Kriegslage im Osten
L.
v. B. Wien, 16. August. (Priv.-Tel.)
Der verzweifelte Widerstand, den die russische Armee auf ihrem Rückzuge
leistet, hat kaum Aussicht auf selbst nur geringen Erfolg. Schon sind mehr
als drei Viertel des zwischen der Weichsel und dem Bug gelegenen Raumes in
den Händen der verbündeten Armeen. Auch die neuen Kämpfe, in welche die
Armee von Below mit der von ihr bereits einmal gründlich geschlagenen 5.
russischen Armee, die nun Verstärkungen erhalten haben dürfte, im Raume
Alesew-Kutschiky an der Lawena und an der Eisenbahn von Ponewjesch nach Dünaburg-Kowarsk
verwickelt ist, dürften nur den Charakter von starken Nachhutkämpfen
haben. Kowarsk an der Swenta, einem Nebenfluß der Wilija, ist 20
Kilometer nördlich von Wilkomir gelegen. Samstag warf General v. Below in
der Gegend von Kupischky die Russen nach Norden und Westen, während ein
Ausfall aus Kowno blutig abgewiesen wurde und die Angriffstruppen sich
dieser Festung immer mehr nähern. Auch die Einschließung von
Nowogeorgiewsk wird immer enger. Das dichte Netz von Befestigungen,
welches die Russen im Weichsel-Narew-Bug-Raume anlegten und das sie für
undurchdringlich und unüberwindlich hielten, ist zerrissen. Seine letzten
Reste sehen mit Bangen dem mit Riesenschritten an sie herantretenden
Schicksal entgegen, das wohl kein anderes sein dürfte, als das aller
ihrer Vorgänger. Nun wird aus Kopenhagen gemeldet, daß die Russen außer
Wilna und Dünaburg auch schon Brest-Litowsk räumen und Tag und Nacht
alle Vorräte von dort nach Minsk befordern. Damit würde die ohnehin
schon bedrohte zweite Verteidigungslinie von den Russen aufgegeben werden
und ihre vielfach betonte Absicht, an der Buglinie dem Feldzug eine
Wendung zu ihren Gunsten zu geben, in das Reich der Träume gehören.
Ohnehin ist durch Energie und Kraft der Verfolgung die Durchführung eines
planmäßigen Rückzuges der Russen illusorisch geworden. Ihre Versuche,
aus einer feldmäßig ausgebautn Stellung zwischen den über 30 Kilometer
östlich von Siedlce gelegenen Städtchen Losice und dem an der Bahn
Lukow-Brest liegenden Miedzyrzecze die Armeen des Prinzen Leopold von
Bayern und Teile der Armee Woyrsch durch kräftige Gegenstöße
aufzuhalten, mißlangen vollständig. Bei und nördlich des ersteren Ortes
sowie auf halbem Wege zwischen diesem und der Bahn, vermutlich im Raume
Mszauna-Prosnow durchbrach die Armee des Prinzen Leopold die starken
Stellungen und warf den Feind gegen Osten.
Auch die daran anschließende gegen Südwesten gekehrte Front des Feindes,
die von Miedzyrzecze und südwestlich von Slawatycze gegen Rozanka im
Norden von Wlodawa zog, wurde von der Armee Mackensen heftig angegriffen
und zum weiteren Rückzug gezwungen. Die Armeen Erzherzog Josef Ferdinand
und Köveß machen unausgesetzt Fortschritte und erleichtern das Vorwärtskommen
der Flügel. Sie sind nunmehr 50 Kilometer von dem Gürtel der Westfront
von Brest entfernt. Die auf das Nordufer des Bug übergegangenen Teile der
Russen werden von dem nordöstlich von Sokolow sich diesem Fluß nähernden
Teile der Bayern in Flanke und Rücken bedroht. Die Absicht der
Russen, Zeit zur Umgruppierung ihrer Kräfte zu gewinnen, wird nicht
durchführbar sein. 2)
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