Die neue russische Offensive
Hauptquartier Oberbefehlshaber Ost, 19. März. (Priv.-Tel.)
Ein Gefühl des Aufatmens und der Befreiung geht durch die Ostfront: die Russen greifen an! Es war für die Soldaten Hindenburgs keine leichte Sache, eine ganze Reihe von Monaten im stillen ereignislosen Stellungskampf auszuharren. Sie, die so viel Entbehrung auf gewaltigen Märschen erduldet haben, die in ungeheuren Leistungen tief in ein entvölkertes und aller Hilfsmittel beraubtes Land eindrangen, sie sprachen jetzt in den Zeiten des Stellungskrieges, wo es ihnen doch materiell viel besser ging, immer noch mit Worten stolzer Erinnerung von den schönen Zeiten des Bewegungskampfes, der ihnen viel Mühsal, aber auch viel neues, großes, unvergeßliches Erleben gebracht hat. Die Monate der Ruhe waren Monate stiller unermüdlicher Arbeit in dem Ausbau von Stellungen, gegen die dereinst, das wußte und hoffte man, ein neuer russischer Anprall anbrausen würde. Man sah mit einem kleinen Gefühl des Neides nach dem Westen, wo die Kameraden in frischem Angriffsgeist vorbrechen durften, und mit dem regen Interesse, das alle Soldaten für die Ereignisse um Verdun an den Tag legten, verband sich stets die leiseste Erwartung einer russischen Parallelaktion. Das Wort "Entlastungsoffensive der Russen" hörte man in letzter Zeit überall in den Schützengräben. Man war, das ist selbstverständlich, was Stellungen und was Material angeht, in einer steten Bereitschaft, man war es auch geistig. Die Russen mochten nur kommen, ein warmer Empfang sollte ihnen bereitet werden.
Nun sind sie gekommen. Die Frontreisen französischer Generale und die verhüllten Hinweise neutraler Militärkritiker auf die Notwendigkeit der Entlastung der Westfront der Verbündeten haben gewirkt, es ging wie ein Ruck durch die Herzen unserer Soldaten. Es ist schwer, diese erwartungsvolle Stimmung zu beschreiben, dieses Erwachen aus der passiven Tätigkeit des Bauens und Stellungfestigens zum Leben der Tat, zum eigenen Handeln, zum neuen Kampf, diese frohe und starke Zuversicht, die dem alles überstrahlenden Gefühl der Unüberwindlichkeit entspringt.
Unsere Linien laufen von dem russischen Brückenkopf um Dünaburg nach Süden auf den Dryswjaty-See zu, ziehen sich zwischen der Widsyseekette durch, hinter der Dryswjata und Mjadsjolka bis in die Richtung von Postawy, über den kleinen Miadziolsee weg zum großen Naroczsee, biegen dann stark nach Westen zum Wiszniewsee, um dann in Südlicher Richtung vor Smorgon vorbeizuführen. Das Gelände ist an Seen und Sümpfen reich, aber unsere Stellungen sind weit günstiger als die der Russen. Als in den letzten Tagen Tau- und Regenwetter die Kälteperiode ablöste, wußte man, daß die russischen Gräben voll Wasser laufen müßten und daß sie einen höchst ungemütlichen Aufenthalt abgeben würden. Noch am 17. März meldete der deutsche Heeresbericht, daß die Lage im Osten unverändert sei, das russische Artilleriefeuer nahm an der ganzen Front etwas zu, ließ aber noch keine bestimmten Ziele erkennen, am folgenden Tage begannen die Russen sich langsam einzuschießen, namentlich an den zu beiden Seiten des Naroczsees liegenden Frontteilen steigerte sich die Tätigkeit der russischen Artillerie zu einem regelrechten Trommelfeuer, das von unserer Seite eine lebhafte Erwiderung fand. Während aber von uns eine ganz vorzügliche Wirkung beobachtet wurde, vermochte das Feuer der Russen unsern Gräben und Anlagen kaum etwas anzuhaben. Selbst Stellen, die mit vielen Tausenden von Geschossen bedacht wurden, blieben nahezu unbeschädigt. Dieses Artillerieduell dehnte sich bis in die Gegend von Smorgon aus. Die feindlichen Linien verlaufen an diesem Teil der Ostfront etwa 400 Meter entfernt von einander, nähern sich aber an einzelnen Stellen bis zu 200 Meter. Der erste Infanterieangriff der Russen erfolgte am 18. März in der Morgenfrühe an ganz verschiedenen Stellen nördlich des Miadziol-Sees, wo schon in der Nacht Patrouillen vorgetastet hatten, wie insbesondere südlich des Naroczsee sowie nördlich von Postawy. Die Russen kamen bis etwa 200 Meter an unsere Stellungen heran, konnten aber in keinem Falle unsere Drahthindernisse erreichen. Ihre verschiedenen Angriffswellen, die von ganz unterschiedlicher Stärke waren, brachen im Artilleriefeuer, wie namentlich in dem Geschoßregen der Maschinengewehre jämmerlich zusammen. Besonders stark waren die russischen Verluste am Wiszniew-See, wo unsere Artillerie die in eine kleine Frontbuchtung am südlichen Seeuser einbrechende Russenmasse flankierend zu fassen bekam. Unsere eigenen Verluste, das darf mit Freude betont werden, sind geradezu erstaunlich gering, die der Russen sind ganz außergewöhnlich hoch. Am Wieszniew-See zählten wir allein 3000 Tote, im ganzen beträgt die Zahl der mit Sicherheit gezählten Leichen im ganzen Abschnitt weit über 9000.
Wiederum berichten russische Gefangene davon, daß ihre Offiziere beim Sturm nicht mit vorgingen, daß man die Mannschaften jedoch vortreibe, weil die durch das Tauwetter
vollkommen verwässerten Stellungen unbedingt verbessert werden mußten. Die Gefangenen klagen bitter, daß sie zwei Tage lang ohne Verpflegung geblieben seien. Einzelnen hat man mit einem gewissen Galgenhumor gesagt, das sei ganz gut so, wenn sie beim Vorgehen einen Bauchschuß bekämen, heile der dann bei leeren Därmen um so besser. Das mag medizinisch richtig sein, die Gefangenen haben aber für diese neue Prophylaxe wenig Verständnis. Von der von den Russen, wie in solchen Fällen üblich, bereitgestellten Verfolgungskavallerie haben unsere Soldaten natürlich noch nichts zu sehen bekommen.
Nach dem stürmischen Tag war die Nacht auf den 19. März ziemlich ruhig. Die große russische Entlastungsoffensive wird wohl kaum schon am Ende ihrer Kraft angelangt sein.
Dr.
Fritz Wertheimer,
Kriegsberichterstatter.
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