Der Weltkrieg am 28. September 1914

 

Der Krieg im Westen

Paris, 28. September. (Priv.-Tel.)
In einem am 27. September nachts 11 Uhr ausgegebenen Bulletin heißt es u. a.: "Die Deutschen haben in der Nacht vom 25. aus den 26. und bis zum 27. bei Tag und Nacht auf unserer ganzen Front unaufhörlich mit unerhörter Heftigkeit ihre Angriffe erneuert, mit dem offenbaren Zweck, unsere Linie zu durchbrechen. Die gesamte Anlage der Angriffe beweist, daß Instruktionen vom Oberkommando gekommen sein müssen, eine Lösung der Schlacht zu suchen. Die französischen Kommandostellen teilen mit, daß die Stimmung der Truppen trotz der riesigen Anstrengungen ausgezeichnet sei."

Paris, 28. September. (Priv.-Tel.)
Die französische Regierung erklärt, der Generalissimus Joffre habe auf ihre Anfrage bestritten, daß die Kathedrale von Reims zur Aufstellung eines Beobachtungspostens gedient habe.

Paris, 28. September. (Priv.-Tel.)
Nach dem heute ausgegebenen Bulletin ist heute keine Änderung der Kriegslage eingetreten und herrscht ziemliche Ruhe. Auf der ganzen Front, abgesehen von heftigen Angriffen der Deutschen zwischen der Aisne und den Argonnen.

Paris, 28. September. (Priv.-Tel.)
Der neuerdings gemeldete Besuch eines deutschen Fliegers über Paris erfolgte gänzlich unerwartet. Die erste Bombe fiel aus dem rechten Seine-Ufer beim Trocadero nieder, gerade gegenüber dem Palais, in dem der Fürst von Monaco bei seinen Besuchen in Paris zu wohnen pflegte. Die zweite Bombe zerschmetterte die Schornsteine eines Herrscherhauses; sie trug eine Flagge mit dem Namen des Fliegers: "von der Decken". Die "Taube" wandte sich dann westlich, überflog das Bois de Boulogne sowie den Rennplatz von Longchamps und warf mehrere Bomben; dann verschwand sie gegen Norden.
Ein zweiter deutscher Flieger erschien nachmittags über Passy und warf eine Bombe, die in einen Garten fiel, ohne Schaden anzurichten. Mehrere französische Flieger machten sich von Issy-les-Moulineaux aus an die Verfolgung, erreichten aber den Deutschen nicht.
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Vom östlichen Kriegsschauplatz

Petersburg, 28. September. (Priv.-Tel.)
Ein gestern ausgegebenes Bulletin besagt: Die Deutschen begannen die Beschießung der Festung Osowiece (zwischen Lomza und Grodno). Diese widersteht der deutschen Artillerie.
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Behandlung von Kriegsgefangenen

Paris, 28. September. (Priv.-Tel.)
Mit Rücksicht auf eine mögliche Belagerung von Paris, während der Bücher zur Kontrolle der den einzelnen Familien durch die Intendantur zu Verfügung gestellten Proviantmengen ausgegeben werden sollen, wurde eine Zählung vorgenommen, die ergab, daß noch 761200 Familien in Paris sind, also 362434 weniger als im Jahre 1911. Ein Drittel aller Familien hat demnach Paris verlassen. Die Einwohnerzahl beträgt 1026307, statt normal 1807044. Also nur 60 Prozent der Bevölkerung sind in der Stadt geblieben.
Bei einem gefangenen französischen Major ist ein Schriftstück gefunden worden, das Vorschriften über die Behandlung der Gefangenen enthält. Es heißt darin in Übersetzung aus dem Französischen:
Sobald eine feindliche Truppe erreicht ist, wird gerufen: "Waffen nieder! Sonst kaputt!" Diese Worte sind jedem Soldaten so lange zu wiederholen, bis er sie seinem Gedächtnis vollständig einverleibt hat. Die Worte bedeuten, daß die Waffen niedergelegt werden müssen, sonst werde man getötet. Sobald ein Unteroffizier oder Soldat gefangen ist, werden ihm sofort die Knöpfe und Schnallen abgeschnitten, die die Hosen um den Leib befestigen; sie dürfen nicht durch Bindfaden ersetzt werden. Der Gefangene ist so genötigt, seine Hosen mit beiden Händen zu halten und er kann nur schwer entfliehen. Die Leute, welche die Gefangenen eskortieren, haben es mit aufgepflanztem Bajonett und geladenem Gewehr zu tun. Wer zu fliehen versucht, dem wird das Bajonett in den Leib gestoßen oder, wenn er nicht nahe genug ist, eine Kugel nachgeschickt, wobei Acht zu geben ist, daß nicht einer der Unsrigen verletzt wird. Es braucht dazu große Kaltblütigkeit, denn mit unserm Präzisionsgewehr kann man einen Mann leicht zwanzig und mehr Meter weit entwischen lassen, bevor man schießt und sicher ist, ihn nicht zu verfehlen.
Die Offiziere müssen sofort Säbel und Revolver abgeben. Sie sind sofort von ihrer Truppe zu trennen und abgesondert durch die nötige Zahl von Mannschaften zu bewachen. Jeder feindliche Offizier, Unteroffizier oder Soldat, der das umgekehrte Gewehr in die Höhe hält, oder ein weißes Tuch aufpflanzt, zum Zeichen, daß er sich ergebe, und der dann verräterischer Weise schießt, muß sofort ohne Erbarmen erschossen werden. Aber wenn man in diesen Fällen, wo Repressalien gestattet sind, mit äußerster Strenge handeln muß, so dürfen wir unsere Ehre nicht etwa dadurch beflecken, daß wir den Gefangenen und noch weniger den Verwundeten den Gnadenstoß geben. Wenn deutsche Soldaten unter gewissen Umständen wie Barbaren oder wilde Tiere sich benehmen, so ist das kein Grund, daß wir Franzosen in gleicher Weise verfahren und die Grundsätze edler Menschlichkeit vergessen.
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Gärungen im Orient

Konstantinopel, 28. September. (Priv.-Tel.)
Die Dardanellenstraße, die bisher für Handelsschiffe offen war, wurde heute gesperrt. Die Maßregel wurde dadurch veranlaßt, daß gestern beim Auslaufen eines türkischen Kriegsschiffes ein englisches Torpedoboot dasselbe aufforderte, sich zurückzuziehen, unter der Drohung, es zu bombardieren. Zwischen der Türkei und England besteht gegenwärtig Friedenszustand. Die Aufforderung des englischen Commodore ist daher ein feindlicher Akt, der umso schwerer ins Gewicht fällt, als er in türkischen Gewässern ausgeübt wurde.

Konstantinopel, 28. September. (Priv.-Tel.)
Der englische Botschafter verlangte gestern eine Audienz bei dem in seiner am Bosporus gelegenen Sommerresidenz von Tschibukli weilenden Khedive Abbas von Ägypten. Die Audienz wurde für heute früh bewilligt. Ich vernehme zuverlässig, England übermittelte dem Khediven ein Ultimatum, Konstantinopel innerhalb 48 Stunden zu verlassen.

Konstantinopel, 28. September. (Priv.-Tel.)
Bei Jaschkale an der persisch-russischen Grenze fand ein heftiger Kampf zwischen persischen Zomalis, einem Bergstamm, und russischen Truppen statt. Diese erlitten eine empfindliche Niederlage. Zweihundert Russen und vier Offiziere sind tot, vierzig verwundet. Die Zomalis erbeuteten vier Maschinengewehre.
"Ikdam" meldet, der Emir von Afghanistan habe an der russischen Grenze 200000 Krieger versammelt.
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Die Kämpfe in den Kolonien

London, 28. September. (W. B.)
Das Reutersche Bureau meldet aus Pretoria vom 24. September: Die Polizeistation Rietfontein ist am 19. September von einer deutschen Abteilung, die ungefähr 200 Mann stark war, genommen worden.
(Notiz des Wolffbureaus: Es handelt sich um eine ziemlich bedeutende englische Station, die östlich von Keetmanshoop liegt.)
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Der 1. Weltkrieg im September 1914

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Textquellen:
1) Amtliche Kriegs-Depeschen nach Berichten des Wolff´schen Telegr.-Bureaus  
Band 1
Nationaler Verlag, Berlin (1915)

2) "Frankfurter Zeitung" (1914)

 

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