Der
strategische Rückzug im Osten
Die
"Frankfurter Zeitung" schrieb:
Als in der zweiten Septemberhälfte die österreichisch-ungarischen
Heere sich nach dem strategischen Rückzug aus Ostgalizien hinter
der Dunajec-Linie neu ordneten, sammelten die Deutschen eine Armee hinter
der Nida, die dann bis Krakau größtenteils mit der Bahn befördere
wurde und gegen Ende September in starken Märschen gemeinsam mit
den verbündeten Truppen der Österreicher und Ungarn zu beiden
Seiten der Weichsel vorging. Diese Truppen warfen am 4. Oktober auf der
Linie Klimontow-Ostrewiez russische Kräfte zurück, die auf zwei
oder drei Korps geschätzt wurden; sie mußten bis auf die Weichsel
zurückgehen. Die deutsche Armee, die ununterbrochen in engster Gemeinschaft
mit ihren Verbündeten kämpfte, nützte den Erfolg nachdrücklich
aus und konnte kurz darauf bei Radom neue russische Kräfte zurückweisen,
die auf die Festung Iwangorod zurückgeworfen wurden. Daß an
diesem Kampfe die Besatzung dieser russischen Festung teilnahm, bewies
schon, daß die Offensive den Russen ganz unerwartet kam.
Gleichzeitig hatte sich aber auch im Abschnitt Breslau-Posen eine zweite
deutsche Armee gebildet, die trotz der außerordentlich beschwerlichen
Wegeverhältnisse sehr rasch vorrückte, sodaß ihre Spitze
schon am 12. Oktober die Weichsel erreichen konnte. Die Russen, die auch
von diesem Gegner anfangs überrascht wurden, erkannten aber bald,
daß in seinem Vorgehen eine starke Bedrohung des Mittelpunktes ihrer
ganzen Stellung in Polen, Warschaus und seiner unmittelbaren Flankenfestungen
Nowogeorgiewsk und Fegrshes lag und versammelten in aller Eile alle irgendwie
verfügbaren Truppen, die mit Hilfe der nordsüdlichen Eisenbahnen
hinter der Weichsel herangebracht werden konnten, um ihm entgegenzutreten.
Am 14. und 15. Oktober versuchten sie mit acht Armeekorps einen Vorstoß
über die Weichsel, der aber unter furchtbaren Verlusten mißlang.
Gleichzeitig aber müssen russische Kräfte, die kaum zu unterschätzen
sein dürften, unter dem Schutze des Brückenkopfes Iwangorod
die Weichsel überschritten haben, denn schon am nächsten Tage
(16.) wurden, wie der deutsche Generalstab berichtete, russische Angriffe
aus Iwangorod und Kozienize abgewiesen. Um einen bloßen Ausfall
der Festungsbesatzung kann es sich dabei kaum gehandelt haben; nach der
blutigen Lehre, die sie kurz vorher von der südlicher vorrückenden
deutschen Armee empfangen hatte, war sie kaum imstande, einen auf breiter
Front angesetzten Angriff überhaupt zu unternehmen.
Über die einzelnen Vorgänge der unmittelbar folgenden Tage geben
weder die deutschen Berichte, die vom östlichen Armeeoberkommando
stets außerordentlich knapp gehalten wurden, weil die Art der bisherigen
Kämpfe eine Verschleierung der strategischen Absichten durchaus nötig
macht, noch die um so wortreicheren russischen Berichte Auskunft, die
uns nunmehr vorliegen. Die deutschen Truppen standen in der Nähe
von Warschau, ohne daß eine Belagerung eingeleitet oder auch nur
geplant sein konnte. Weiter südlich schien Iwangorod fast unmittelbar
bedroht, da schon schwere Artillerie gegen die Stadt angesetzt worden
sein soll; um eine ernst gemeinte Aktion gegen die Festung kann es aber
der deutschen und der verbündeten Heeresleitung noch nicht zu tun
gewesen sein. Denn die russischen Berichte erklären, die Weichselbrücke
bei Iwangorod habe bei der Beschießung nur "geringen Schaden"
erlitten; es ist klar, daß wirklich schwere Kaliber die Brücke
mit Leichtigkeit zerstört hätten. Solange die russische Feldarmee,
die sich von Tag zu Tag mehr verstärkte, ungeschwächt blieb,
konnte der Besitz eines Einzelstücks der russischen Festungslinie
keine entscheidende Bedeutung haben. Nur ein Durchbruch durch die feindlichen
Linien konnte das Ziel der Deutschen sein. Eine Besetzung Iwangorods hätte
dieses Ziel noch nicht verwirklicht, da die russischen Heeresstraßen,
auf die sich die Besatzung der Festung zurückziehen konnte, um die
Verbindungen zwischen den Flügeln zu halten, ziemlich weit ostwärts
der Weichsel angelegt sind.
Ernster muß den Russen die Bedrohung Warschaus erschienen sein,
denn zum Schutze dieser an sich bedeutenden Lager-Festung, deren Verlust
auch politisch für sie von Bedeutung wäre, sammelten sie allem
Anschein nach ungeheure Kräfte, die ihren eigenen Angaben nach zum
großen Teil durch Gewaltmärsche herangeholt werden mußten.
Ungefähr am 20. Oktober war der russische Aufmarsch hinter der Weichsel
beendet, sodaß gleichzeitig von Iwangorod aus, wo zunächst
schwächere Kräfte operierten, und auf Warschau - Novogeorgiewsk
Vorstöße mit sehr bedeutenden Kräften unternommen werden
konnten. Die hinter der Weichsel liegenden russischen Bahnen gestatteten
dabei die Verschiebung auch größerer Truppenmassen von einem
Kampfplatz auf den andern, sodaß das Übergewicht der Zahl,
das die russische Heeresleitung inzwischen hergestellt hatte, sich in
erhöhtem Maße bald da, bald dort geltend machen mußte.
Da aber die Russen die stärkste Wucht ihres Vorstoßes aus dem
Raume Warschau entfalteten, mußte die deutsche Heeresleitung zunächst
darauf verzichten, an dieser Stelle durch kühnes Zugreifen Erfolge
zu holen. Sie mußte vielmehr darauf bedacht sein, ihren linken Flügel,
der nunmehr von den Russen bedroht wurde, gegen jede Umklammerung zu sichern.
Die Russen glaubten sogar am 22. Oktober schon diesen Flügel abgeschnitten
zu haben.
Die Neuordnung der verbündeten Heere, die durch den letzten Tagesbericht
des deutschen Hauptquartiers angekündigt wird, machte einen allmählichen
Abbau der bisher eingenommenen Stellung nötig, der einer gewaltigen
feindlichen Übermacht gegenüber nur mit größter Vorsicht
zu bewerkstelligen war. Die außerordentliche Zurückhaltung
in der amtlichen Berichterstattung der letzten Tage erklärt sich
aus der Notwendigkeit, dem Feinde jede Bewegung und jede Absicht nach
Möglichkeit zu verbergen. Das ist denn auch in vollem Umfange gelungen.
Aus den russischen Berichten geht klar hervor, daß man dort über
die Absichten der deutschen Leitung im Unklaren blieb. Freilich widerspricht
sich die russische Berichterstattung, wie dies schon früher festzustellen
war, in wesentlichen Punkten, sodaß sie nur in geringem Umfang,
eigentlich nur da, wo ihre Angaben von den deutschen Berichten mittelbar
bestätigt werden, zur Information herangezogen werden kann. Immerhin
bemerkt man in den russischen Bulletins eine schwankende Beurteilung der
Lage. Dazu mag der Umstand beigetragen haben, daß vor Iwangorod
auch am 25. und 26. noch lebhaft gekämpft wurde, sodaß die
Russen über die eigentlichen Absichten der Verbündeten immer
noch im Unklaren bleiben mußten. Sie wagten daher auch nirgends,
mit solchem Nachdruck vorzugehen, daß ihnen ein entschiedener Erfolg
zugefallen wäre. Alle ihre Angriffe, die sich oft gegen ziemlich
schwache zurückgelassene Abteilungen gerichtet haben müssen,
wurden immer wieder abgewiesen. Der gewaltigen russischen Übermacht
gelang es wohl, die deutsche Heeresleitung zu einer Änderung ihrer
Pläne zu veranlassen, nicht aber, ihre Truppen zu schlagen.
Die russischen Bulletins haben zwar in diesen Tagen mehrfach von Einzelerfolgen,
von Gefangennahme kleinerer Abteilungen, von Eroberung einiger Batterien
und ähnlichem berichtet, die deutsche Leitung hat aber diesen Berichten
immer sofort ein Dementi entgegengesetzt. Wir wissen von vornherein, wem
wir glauben dürfen. Aber selbst wenn wir Zweifel hegten, könnten
uns die russischen Berichte selber lehren, daß der strategische
Rückzug der Deutschen in geradezu musterhafter Ordnung vor sich gegangen
ist. "Mit peinlicher Sorgfalt räumen die Deutschen ihre Stellungen"
heißt es in einem der russischen Bulletins und in einem anderen
wird als wichtiger Erfolg die Gefangennahme eines Zuges deutscher Infanterie
berichtet. Wer sich mit solchen Kleinigkeiten begnügt, hat sicherlich
keine großen Erfolge zu verzeichnen.
Den deutschen Angriff über die Weichsel hinüberzutragen, war
ganz ausgeschlossen, solange Rußland die Weichselfestungen innehatte.
Man mußte die Russen den Fluß überschreiten lassen, da
die Schlacht für die russischen Heere weit ungünstiger ist,
wenn sie hinter sich das starke Hindernis der Weichsellinie haben. Das
Gelände, das den Russen nun zur Schlacht offensteht, wenn sie dem
verbündeten Heeren folgen, ist in jeder Beziehung weit ungünstiger
als das hinter der Weichsel gelegene, von dem aus sie bisher vorgingen.
Die verbündeten Truppen aber dürften sich in einer Gegend ordnen,
die abgesehen von dem Vorteil der größeren Nähe der an
Verkehrswegen reicheren heimatlichen Basis auch feste natürliche
Stellungen bietet, an denen der russische Vorstoß schnell genug
zum Scheitern kommen wird.
Der bisherige Feldzug in Polen, der auf diesem Kampfplatz den weitaus
größten Teil der russischen Kräfte band, hat auf den beiden
Flügeln der gewaltigen Stellung, die von Ostpreußen bis in
die Karpathen reicht, unsere Lage entscheidend verbessert. Im Nordosten
ist Ostpreußen wohl endgültig gegen jede neue russische Belästigung
gesichert, nachdem sich die Russen an der festen Stellung im Gouvernement
Suwalki nichts als blutige Köpfe geholt haben und ihr kurzer Einmarsch
nach Lyck mit einem überstürzten Rückzug und einem neuen
Offensivstoß der Deutschen endigte. In Galizien konnte Przemysl
entsetzt werden, ein Ereignis von gewaltiger Tragweite für den Verlauf
des ganzen Krieges. Über die dortigen Kämpfe, die zum Teil zu
Stellungsgefechten geworden sind, wird später noch eingehender zu
reden sein, wenn ein greifbarer Abschluß einen Überblick ermöglicht.
Die Russen haben auch den polnischen Feldzug mit schweren Verlusten bezahlt,
obwohl ihre Führung nach den bitteren Erfahrungen in Ostpreußen
vorsichtiger geworden zu sein scheint. Mindestens 20000 Gefangene sind
in unsere Hände gefallen, die Verluste an Toten und Verwundeten müssen
auch nach Berichten aus russischer Quelle gewaltig gewesen sein. Was aber
für Rußland fast noch schwerer wiegt, ist die Einbuße
von weiterem Artilleriematerial, das zum Teil ebenfalls in unseren Besitz
kam. Der Ersatz der verlorenen Batterien, die schon einen sehr fühlbaren
Teil des gesamten Artilleriebestandes der russischen Armee ausmachen,
ist mit den größten Schwierigkeiten verbunden, da nur ein einziges
Werk (Putilow) dafür in Frage kommt und eine Zufuhr aus dem Ausland
nur noch auf dem ungeheuer beschwerlichen, langwierigen und kostspieligen
Umwege über Wladiwostok möglich ist, seit die Türkei die
Dardanellen verschlossen hält. Die Feldhaubitzen, die Rußland
stets aus dem Auslande bezogen hat, können vermutlich überhaupt
nicht ersetzt werden. Auch die übrigen Materialverluste sind schon
ungeheuer groß. Noch schwerwiegender dürfte aber der Mangel
an Offizieren sein, der in Rußland, wo die Zahl der ausreichend
ausgebildeten Reserveoffiziere sehr klein ist, schneller fühlbar
werden mußte als anderswo. Die russischen Verlustlisten, die nur
Offiziere umfassen, füllen täglich Spalten in den Tagesblättern.
Man hat schon zu verzweifelten Mitteln gegriffen, um das Offizierkorps
zu ergänzen. Wie kürzlich gemeldet wurde, sollen die diensttauglichen
Studenten innerhalb vier Monaten zu Offizieren ausgebildet werben; aus
anderer Quelle vernehmen wir, daß der Zar sogar die während
der Revolution wegen Meuterei verurteilten Offiziere begnadigt und mit
ihrem früheren Dienstgrad wieder ins Heer eingestellt hat.
Die Niederringung Rußlands ist zum großen Teil eine Frage
der Zeit; darum tut Geduld vor allem not. An Zuversicht fehlt es uns nicht
- der Führer unserer Ostarmee hat sie schon überreich verdient.
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