Aus
der italienischen Kammer
Salandra |
Giolitti |
Rom,
5. Dezember. (W. B.)
Die Kammer setzte heute die Erörterung der Regierungserklärung fort.
Bettolo beantragte und begründete folgende Tagesordnung:
"Da die Kammer anerkennt, daß die Neutralität Italiens mit vollem
Recht und überlegtem Urteil proklamiert wurde, so hat sie das Vertrauen
zur Regierung, daß diese im Bewußtsein ihrer schweren Verantwortung
durch ihr Auftreten und die geeignetsten Mittel verstehen wird, die den höchsten
Interessen der Nation entsprechende Handlungsweise zu erklären."
Bettolo drückte seine Genugtuung darüber aus, daß die von Italien
proklamierte Neutralität auf keinen Fall ihren Grund habe in der
Vorbereitung und Kraft der militärischen Organisation. (Lebhafter
Beifall.) Salandra habe die wahren Gründe dafür angegeben, weshalb
Italien an dem ungeheuren Krieg nicht teilnehmen kann. Bettolo faßte die
Haltung Italiens folgendermaßen zusammen: Die Neutralität soll keine
passive Entsagung bedeuten, sondern eine wachsame und gelassene Überwachung,
die durch eine kräftige militärische Vorbereitung gestützt wird. Diese
solle bereit sein, die höchsten Interessen der Nation zu verteidigen,
falls sie bedroht oder mißverstanden werden sollten. (Beifall.)
Bettolo betonte, daß Italien besonderes Bedürfnis empfinden müsse, an
sich selbst zu denken, ohne auf die Schmeicheleien interessierter
Lockungen zu hören, noch auf die gefährliche Suggestion verwickelter und
abstrakter Begriffe, die den Sinn für die Wirklichkeit verlieren könnten.
Bettolo sprach zum
Schluß sein Vertrauen aus, daß die Regierung ihre Aufgabe mit dem
sicheren Bewußtsein der Interessen des Vaterlandes erfüllen werde.
Nachdem ein Sozialist für und ein anderer gegen die Regierung gesprochen
hatte, ergriff der Ministerpräsident Salandra das Wort und drückte zunächst
sein Bedauern über die wenig maßvollen Ausdrücke aus, die einzelne
Redner bei Beurteilung des großen internationalen Konflikts und der Mächte,
die daran beteiligt sind, gebraucht hätten. (Lebhafter Beifall.)
Dann fuhr der Ministerpräsident fort: Italien erkennt die Verdienste und
Vorzüge aller zivilisierten Völker an und weiß, daß alle am
Fortschritt mitgearbeitet haben. Es lebe Italien, das sei unser Ruf. (Die
Abgeordneten erheben sich. Anhaltender Beifall. Wiederholter Ruf: "Es
lebe Italien!") Man hat gesagt, daß meine Erklärungen rätselhaft
waren; mir dagegen scheinen sie sehr klar gewesen zu sein, und ich glaube,
daß die große Mehrheit des Landes, die in diesem Augenblick von uns
vertreten wird, und nicht (zur äußersten Linken gewandt) von
Ihnen, mit mir einverstanden ist. (Sehr lebhafter Beifall, der von der
äußersten Linken unterbrochen wird.) Was ich gesagt habe, wird von
jedermann verstanden, und ich darf kein Wort hinzufügen. Sie sollen meine
Erklärungen beurteilen; aber ich kann keine ausführlicheren Erklärungen
geben, denn das würde gegen das Staatsinteresse sein. (Sehr lebhafter
Beifall.) Wenn Sie glauben, daß diese Art, die Pflichten der
Regierung zu beurteilen, dem Staatsinteresse entspricht, dann werden Sie
unsere politische Richtlinie billigen. Anderen falls werden Sie unsere
Pflichten kennen. (Sehr gut. Bravo.) Was die militärische
Vorbereitung anbelangt, so erkläre ich, daß Heer und Flotte Italiens für
jede Eventualität bereit sind. (Sehr lebhafte Zustimmung. Beifall.)
Wir haben ebenso wie unsere Vorgänger die schwere Verantwortung für das
Wohl des Landes übernommen. Sie werden, sobald Ihnen die Dokumente
vorgelegt werden, diese Verantwortung beurteilen können. Aber nicht
heute. (Zustimmung.) Das Land stimmt mit der Regierung überein,
seine Interessen schützen zu wollen, und sie werden geschützt werden.
Ich kann nicht über diese Erklärungen hinausgehen. (Lebhafter
Beifall.) Die Kammer muß sagen, ob sie Vertrauen zur Regierung hat.
In diesem Augenblick kann man über nichts anderes verhandeln. Ich erkläre,
daß ich die Tagesordnung Bettolos annehme, besonders, weil sie der
Regierung volle Handlungsfreiheit zuerkennt. Salandra schloß mit den
Worten: Wir kennen die furchtbare Verantwortung, die auf uns ruht. Wir
kennen sie und fühlen sie; aber ohne volle Handlungsfreiheit unter
Zustimmung der Kammer können weder wir noch irgend eine Regierung das
Land in diesem Augenblick leiten. (Beifall.) Dies ist die Bedeutung
der Tagesordnung Bettolo, die ich die Kammer anzunehmen bitte. (Sehr
lebhafte Zustimmung und anhaltender lebhafter Beifall.)
Eine
Erklärung Giolittis
Im
weiteren Verlaufe der Sitzung ergriff auch der frühere Ministerpräsident
Giolitti, dessen Erklärungen von dem Hause mit gespannter Aufmerksamkeit
angehört wurden, das Wort. Er führte aus, daß es vor allem von
Wichtigkeit sei, daß die Loyalität Italiens über jeder Diskussion
stehe. So erinnere er bezüglich des Rechtes Italiens, die Neutralität zu
erklären, daran, daß schon im Jahre 1913 Österreich an eine Aktion
gegen Serbien dachte, ehe es ihr den Charakter einer Defensivaktion geben
wollte. Er aber habe mit dem verstorbenen Minister des Äußern die
Ansicht geteilt, daß dabei der Bedürfnisfall nicht gegeben sei, und
diese Ansicht habe die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den verbündeten
Mächten nicht gestört. Als Italien seine Neutralität proklamierte, habe
es also vollkommen loyal gehandelt und nur sein gutes Recht ausgeübt (Sehr
lebhafter Beifall.) Er billige vollkommen die von der Regierung
abgegebenen Erklärungen einer wachsamen und bewaffneten Neutralität, die
von allen Italienern solange loyal beachtet werden müßte, als nicht der
Augenblick eintrete, der es zur Pflicht mache, ins Feld zu eilen, um die höchsten
Interessen Italiens zu wahren. (Beifall.) Der Redner ermahnte
weiter die Italiener, eine klare und reservierte Haltung zu beobachten.
Die höchsten und vitalsten Interessen des Landes erforderten von
jedermann, besonders aber von politischen Persönlichkeiten und von der
Presse die größte Zurückhaltung. (Zustimmung.) Er werde seine
Stimme für die Regierung abgeben, von der er wünsche, daß sie in ihrem
Vorgehen verharren möge, um sich, wie im gegenwärtigen Augenblick, die
volle Anerkennung des Landes zu verdienen. (Lebhafter Beifall.)
Hierauf wurde zur Abstimmung geschritten. Die von der Regierung genehmigte
Tagesordnung Bettolo wurde in namentlicher Abstimmung mit 413 gegen 49
Stimmen angenommen.
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