Die neue Regierung in Frankreich
Die "Frankfurter Zeitung" schreibt:
Als Waldeck-Rousseau mitten in den Stürmen der Affäre Dreyfus die schwierige und gefährliche Aufgabe übernahm, nach einer Reihe von gescheiterten Ministerien ein neues zu bilden, machte er, wie er später einmal sagte, die seltene Erfahrung, daß die sonst so belebten Straßen, die zur Macht führen, vereinsamt lagen. Den gleichen Anblick scheint die politische Landschaft in Frankreich jetzt abermals geboten zu haben. "Die Straßen zur Macht", schrieb der "Temps" am vergangenen Donnerstag, "sind in diesem Augenblick nicht sehr bevölkert. Nicht daß sie gänzlich verlassen wären, aber man begegnet dort nur wenigen namhaften Persönlichkeiten und wir leben in einer Zeit, in der der gute Wille nicht genügt". Viviani wäre offenbar durchaus geeignet gewesen, einem umgebildeten Kabinett vorzustehen, doch hat der Lockruf seines schwer erschütterten Ansehens nicht vermocht, beachtenswerte Bewerber anzuziehen, und so hat er sich nachträglich besonnen, daß die Abstimmung vom 13. Oktober für die heutigen Umstände, an die man den Maßstab des Burgfriedens legen muß, eigentlich doch ein Mißtrauensvotum war. Aber auch Briands Angebot haben unter den Setzen der Volksvertretung keine fieberhafte Nachfrage erweckt. Andernfalls wäre wohl Herr Malvy, der herzlich unbedeutende Minister des Innern, durch eine beträchtlichere Persönlichkeit ersetzt worden, der nicht minder wesenlose Abgeordnete Métin kaum zur Ehre der Ministerschaft gelangt und für Viviani selber vermutlich auch das Justizministerium nicht übrig geblieben Auch der ehemalige Notar Clémentel, dem das Portefeuille des Handels zufällt, zählt zu den minderen Häuptern, obwohl er schon einmal Minister war.
Von etwas höherem Range ist der neue Minister der Kolonien, Herr Doumergue, der dem Ministerium Combes und seitdem verschiedenen anderen Kabinetten angehörte.
Von Ende 1913 bis Juni 1914 stand er an der Spitze eines radikalen Ministeriums, in dem Herr Caillaux den führenden Einfluß hatte. Der radikale Abgeordnete Painlevé ist kürzlich als Vorsitzender des aus den großen Ausschüssen beider Häuser gebildeten Geheimparlaments genannt worden, dem Herr Viviani mit plötzlichem Entschluß das Versprechen brach, ihm die Wahrheit über die Lage zu enthüllen. Solche Kränkung, die unter den äußeren Ursachen von Vivianis Sturz nicht ohne Belang war, wird heute durch Herrn Painlevés Berufung in das Ministerium des Unterrichts gesühnt, dem man eine Abteilung "Erfindungen für die Landesverteidigung" angefügt hat.
Der Senator Jules Méline gehört, obwohl mit dem Ministerium des Ackerbaus betraut, mit seinen 77 Jahren und seiner reichen, in der Kommune beginnenden und mit der Führerschaft der konservativen und schutzzöllnerischen Republikaner (Progressisten) endigenden Geschichte bereits zu dem Kreis der Ehrenmitglieder, mit deren hilfreichem Glanze sich das Ministerium Briand umgibt. Unter ihnen ist der Berühmteste der im Jahre 1828 geborene Senator de Freycinet, der während des siebziger Krieges mit Gambetta die historische Ballonfahrt nach Tours machte und an dessen Seite für die Organisation der Armeen wirkte, die nach Sedan vergebens das Schicksal zu wenden suchten. Zwischen den Jahren 1876 und 1899 hat er einer Menge Regierungen mit dem Portefeuille des Auswärtigen oder des Krieges angehört, auch etwelchen selber vorgestanden. Herr Jules Combes, im Jahre 1835 geboren, begann seine Entwicklung als schon mit den niederen Weihen versehener Lehrer der Philosophie an einem geistlichen Institut, um sie als Vorsitzender des Ministeriums zu beendigen, das den Kampf gegen die Kirche aufs äußerste trieb und die Trennung von Kirche und Staat vorbereitete. Herr Léon Bourgeois, von Haus aus dem Beamtenstand zugehörig, in dem er zu hohen Posten gelangte, trat im Jahre 1888 in die politische Laufbahn ein, die ihn gleichfalls zu bedeutenden Würden führte.
Lange Jahre hindurch neben Brisson der Führer der Radikalen, hat er einer Reihe von Ministerien angehört und einem präsidiert. Er war der Vertreter der Republik auf der zweiten Friedenskonferenz im Haag und Minister des Äußern, als die Konferenz von Algeciras zum Abschluß kam. Seine Weigerung, sich als Kandidat der Linken aufstellen zu lassen war von bestimmendem Einfluß auf die Präsidentenwahl des Jahres 1912, aus der Herr Poincaré als Sieger hervorging. Der Abgeordnete Denys Cochin endlich zieht als Vertreter der äußersten Rechten in das Ministerium ein. Die Verfassungswidrigkeit seiner monarchistischen Gesinnung schloß eine politische Laufbahn aus, doch galt er seit dem Bruch der Republik mit Rom zu Zeiten als eine Art von halbamtlichem Geschäftsträger des Vatikans.
General Gallieni, der Nachfolger Millerands im Kriegsministerium, war bisher bekanntlich Gouverneur von Paris. Sein Ruf gründet sich namentlich auf die Erfolge seiner Verwaltung in Madagaskar, dessen Unterwerfung er vollendete. Der neue Marineminister Lacaze, durch den der Abgeordnete Augagneur aus seinem Posten verdrängt wird, ist ein Admiral ohne politische Vergangenheit. Ribot, Sembat und Guesde bleiben im Amt.
Der Generalsekretär im Ministerium des Auswärtigen, als dessen eigentlicher Leiter er wohl zu betrachten ist, Herr Jules Cambon, geht aus der Verwaltungslaufbahn hervor, die er mit dem Amt des Generalgouverneurs von Algerien glänzend abschloß, um als Botschafter der Republik nach Washington, später nach Madrid und endlich nach Berlin zu gehen. Man sagt von ihm, daß er sich dort eine Zeitlang ebenso eifrig um eine Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich zu bemühen schien, wie sein Bruder Paul Cambon in London für die Vertiefung des Einvernehmens zwischen Frankreich und England wirkte.
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