Die
Kündigung des Dreibunds durch Italien - Die italienische Erklärung
in Wien
Sonnino
Rom,
20. Mai.
Das heute in der italienischen Kammer vorgelegte Grünbuch enthält
als letztes Aktenstück eine Note des Ministers des Auswärtigen
Sonnino an Österreich-Ungarn, in der es heißt:
"Österreich-Ungarn stellte im Laufe des Sommers 1914, ohne
irgendein Einverständnis mit Italien zu treffen, ja, ohne ihm die
geringste Benachrichtigung zugehen zu lassen und ohne sich irgendwie
durch die Ratschläge zur Mäßigung beeinflussen zu lassen, welche
ihm durch die Königliche Regierung gegeben worden waren, am 23.
Juni Serbien das Ultimatum, welches die Ursache und der
Ausgangspunkt des augenblicklichen Kriegsbrandes in Europa wurde.
Indem Österreich-Ungarn die Verpflichtungen, welche sich aus dem
Vertrage ergaben, vernachlässigte, brachte es den status quo auf
der Balkanhalbinsel von Grund auf in Verwirrung und schuf eine Lage,
von welcher es allein Nutzen haben mußte, zum Schaden der
allerwichtigsten Interessen, welche sein Verbündeter so oft (als
die seinen) bestätigt und proklamiert hatte. Eine so flagrante
Verletzung des Buchstabens und des Geistes des Vertrages
rechtfertigte nicht nur die Weigerung Italiens, sich in dem ohne
Einholung seiner Meinung hervorgerufenen Kriege an die Seite seiner
Verbündeten zu stellen, sondern sie nahm sogar dem Bündnis mit
demselben Schlage seinen wesentlichen Inhalt und sein Daseinsrecht.
Sogar das Abkommen über eine wohlwollende Neutralität, welches
durch den Vertrag vorgesehen war, fand sich durch diese Verletzung
beeinträchtigt. Tatsächlich kommen Überlegung und Gefühl dahin
überein, die Aufrechterhaltung einer wohlwollenden Neutralität
auszuschließen, wenn einer der Verbündeten zu den Waffen greift
zur Verwirklichung eines Programms, welches den Lebensinteressen des
anderen Verbündeten strikt zuwiderläuft, und zwar den Interessen,
deren Wahrung den Hauptgrund gerade dieses Bündnisses bildete.
Nichtsdestoweniger hat Italien sich mehrere Monate hindurch bemüht,
eine Lage zu schaffen, welche der Wiederherstellung
freundschaftlicher Beziehungen zwischen den beiden Staaten günstig
wäre, welche die wesentliche Grundlage jedes Zusammenwirkens im
Bereiche der großen Politik bilden. In dieser Absicht und in dieser
Hoffnung erklärte die italienische Regierung sich bereit, auf ein
Arrangement einzugehen, welches die Befriedigung der legitimen
nationalen Ansprüche Italiens in billigem Ausmaß zur Grundlage hätte
und welches zugleich dazu gedient hätte, die vorhandene
Ungleichheit in der gegenseitigen Lage der beiden Staaten im
Adriatischen Meere zu beseitigen. Diese Verhandlungen führten
jedoch zu keinem in Betracht kommenden Ergebnis. Bei diesem Stande
der Sache muß die italienische Regierung auf die Hoffnung
verzichten, zu einem Einverständnis zu kommen, und sieht sich
gezwungen, alle Vorschläge zu einem Übereinkommen zurückzuziehen.
Es ist ebenso unnütz, den äußeren Anschein eines Bündnisses
aufrechtzuhalten, welches nur die Bestimmung haben würde, das tatsächliche
Bestehen eines beständigen Mißtrauens und täglicher
Meinungsverschiedenheiten zu verschleiern. Aus diesem Grunde
versichert und erklärt Italien im Vertrauen auf sein gutes Recht,
daß es von diesem Augenblick an sich die volle Freiheit seiner
Handlungen wieder nimmt und seinen Bündnisvertrag mit Österreich-Ungarn
für annulliert und künftig wirkungslos erklärt."
Der Botschafter, Herzog von Avarna, machte dem Baron Burian diese
Mitteilung am 4. Mai. 1) |