II.
Drei
Stellen in der Schlachtfront der Armee des Kronprinzen von Bayern waren
es, an denen am 9. Mai die französische Granate dem Bajonett einen
Weg gebahnt hatte.
Den Feind bei Loos wieder hinauszuwerfen, konnte der Oberbefehlshaber
den dort stehenden Badenern ruhig überlassen. Er hat sich nicht getäuscht.
Einige Kompagnien stellten sich den Franzosen frontal gegenüber und
wichen langsam zurück, mit dem Auftrag, sie gegen die zweite Stellung
nach sich zu ziehen. Die Artillerie legte hinter den Feind Sperrfeuer,
das jede Verbindung unterbrach. Von Nord und Süd aber gingen in unseren
Gräben je ein Bataillon, die Kommandeure an der Spitze, mit Handgranaten
gegen Flanke und Rücken der Franzosen vor. Als am Morgen des 10.
Mai die überlebenden 700 des französischen Regiments 114 mit
ihren 6 Maschinengewehren die Waffen streckten, erblickten sie an den
Helmüberzügen der Sieger dieselbe Nummer, die sie am Kragen
trugen. Der tapfere tödlich verwundete Kommandeur und ein Major des
französischen Regiments fanden ihre letzte Ruhestatt im Friedhof
des deutschen Truppenteils mitten unter den badischen Helden.
Weiter südlich genügte die eigene Kraft der dort stehenden deutschen
Truppen nicht, um die eingedrungenen Massen des Feindes zurückzudrücken.
Dort mußte die oberste Führung ihre Reserven einsetzen.
Sorgfältigste Vorbereitung des hier im französischen Kohlenrevier
dichten Bahnnetzes gestattete ihre schnelle Verschiebung. Bereits um die
Mittagsstunde des 9. Mai nahm ein sächsisches Jägerbataillon
die Badener auf der Lorettohöhe auf, bayerische Jäger verstärkten
die schwache Besatzung von Souchez. Am Abend standen mehrere Infanterieregimenter
in der Gegend südlich Lens zur Verfügung, weitere Regimenter
führten Zug auf Zug heran. Die Straßen bedeckten die berittenen
Truppen, Kolonnen und Trains der bisher in Reserve stehenden Truppenkörper.
Bis zum Mittag des 10. Mai konnte der Oberbefehlshaber alle im Armeebereich
verfügbaren Truppen dort vereinigen. Ein frisches Armeekorps etwa
hatte er damit zur Hand. Das möchte wohl viel scheinen; winzig genug
war aber diese Verstärkung gegenüber der feindlichen Übermacht.
Und wie im deutschen Heere es stets als vornehmste Pflicht galt, den Kameraden
zur Seite zu stehen, so sandten die kommandierenden Generale der nicht
angegriffenen Nachbararmeekorps aus freien Stücken ihre bei den breiten
Fronten nur recht spärlichen Reserven bereitwilligst an die bedrohen
Stellen.
Alles zu vereinigen, um mit einem großen Schlag den eingedrungenen
Feind hinauszuwerfen, dieser Gedanke lag nahe. Die Wirklichkeit verbot
seine Ausführung. War auch der Feind zwischen Souchez und Neuville
an den Höhen 119, 140 und den Waldrändern südlich davon
zum Stehen gebracht, so hätten vielleicht die schwachen bayerischen
Truppen hier einem neuen großen Angriff nicht widerstehen können.
Sie bedurften der Unterstützung. Schon am späten Abend des 9.
Mai schoben sich die ersten Regimenter in ihre Linie ein. Sie begnügten
sich nicht, sie zu halten und zu verstärken. Südöstlich
Souchez streicht eine tief eingeschnittene Mulde nach Süden, zwischen
dem Rücken, auf dem unsere Schützen lagen, und der Höhe,
deren südlichsten Ausläufer der Kirchhof dieses Dorfes krönt.
Artilleriemulde hieß sie in unseren Stellungskarten. Hier standen
noch einige bayerische Feldgeschütze und zwei schwere Feldhaubitzen,
die der Feind überrannt hatte, aber nicht hatte zurückführen
können. Bayern und Elsaß-Lothringer gingen von Givenchy aus
vor, bis in die Mulde warfen sie den Feind zurück. Schon sind die
Geschütze zwischen beiden Linien. Heftige Einzelkämpfe entspinnen
sich um sie in der Nacht und am nächsten Vormittag. Immer wieder
versuchen die Unseren die Geschütze zu nehmen, ein Tapferer nach
dem anderen fällt unter dem Feuer von Maschinengewehren, die der
Feind eigens zum Schutz der erhofften Beute aufgestellt hat. Den Franzosen
gelingt es aber ebensowenig, die Geschütze in Sicherheit zu bringen.
Die schweren Haubitzen verankern sie mit Eisenketten, die bis in ihren
westlich der Mulde gelegenen Graben zurückgespannt sind. Das Schicksal
will es, daß den Söhnen des Reichslandes, die so wacker ihre
Pflicht für ihren Kaiser und ihre Heimat tun, ein Fremdenregiment
der marokkanischen Division gegenübersteht, das mit fast völliger
Vernichtung den Lohn der Vaterlandslosen erntet.
Weiter südlich, in Neuville und nördlich davon tragen Kurhessen,
Lothringer und Westfalen die bayerische Linie weiter vor.
So hatte der Einsatz dieser wenigen Regimenter nicht nur unsre Linie der
großen Einbruchsstelle gegenüber gefestigt, sondern die Franzosen
verhindert, am 10. Mai hier den Angriff im großen Maße zu
erneuern. Nur bei Neuville griff er mit kleineren Abteilungen immer wieder
erfolglos an, während südlich des Dorfes das in seinen Gräben
von West, Nord und Süd umfaßte bayerische Regiment, vom feindlichen
Artilleriefeuer und Minenwürfen überschüttet, im erbitterten
Nahkampf mit der feindlichen Infanterie seine Stellung hielt. Von dort
bis zur Scarpe getrauten sich nach der blutigen Lehre vom Tage vorher
das XVII. französische Armeekorps und die 19. Infanteriedivision
am 10. Mai nicht anzugreifen.
Bedrohlicher erschien die Lage an der Lorettohöhe. Noch mehr als
früher schon war nach dem französischen Einbruch südlich
Carency unsere Stellung hier durch den Feind umfaßt. Seine Artillerie,
die am 9. Mai der Infanterie gefolgt und nordwestlich La Targette in Stellung
gegangen war, schoß sogar in den Rücken unserer Gräben
bei der Kapelle. Jeder Verkehr südlich der Höhe entlang nach
Ablain und Carency war bei Tage unter diesem Feuer unmöglich, bei
Nacht ein großes Wagnis.
Als am Nachmittag des 10. Mai sehr starkes Artilleriefeuer auf diesen
Stellungen lag, rückte ein sächsisches Infanterieregiment zur
Unterstützung der Badener in den gefährlichen Abschnitt ein.
Dem südlich Souchez kommandierenden General standen daher nur mehr
zwei frische Infanterieregimenter zur Verfügung, mit denen er am
Abend zwischen diesem Dorf und Neuville anzugreifen Befehl erhielt. Artillerie
bereitete den Angriff vor. Ihr Aufmarsch an der einzig möglichen
Stellung beiderseits Vimy konnte der französischen Luftaufklärung
nicht verborgen bleiben, der Einsatz der Beobachtungsstellen in die Infanterielinien
nicht ohne beträchtliche Verluste abgehen. Und doch war es eine Lust
für die Truppe, heraus aus der Einförmigkeit der Stellungsschlacht
zu kommen und auffahren zu können, beinahe wie man es in der Herbstfeldschlacht
getan, für die Sommerfeldschlachten erhoffte. Da ertrug man leicht
Verluste an Mann, Roß und Gerät.
Um 7 Uhr abends brach der Angriff los, die frischen Regimenter, ein württembergisches
von Givenchy aus, ein sächsisches über Höhe 140 mitten
zwischen den im Gefecht stehenden Teilen. Über die feindwärts
abfallenden Hänge galt es vorzustürmen, gegen die feindliche
Infanterie, die sich in unseren vorderen Stellungen und in neuangelegten
Gräben einzurichten mehr als 24 Stunden Zeit gehabt hatte gegen die
gewaltige feindliche Artillerie, deren hier eingelebte Feuerleiter jeden
Baumstumpf, jeden Erdaufwurf besser kannten als auf einem jahrelang gewohnten
Schießplatz. Ein Feuersturm empfängt daher unsere SchützenwelIen.
Hier und dort reißt er Lücken in die Tapferen. Aber jeder weiß,
daß es gilt; in jedem einzelnen lebt nur der Drang an den Feind.
Und es geht. Aus Souchez heraus, unterstützt von den von Givenchy
her stürmenden Württembergern, nehmen bayerische Jäger
den Kirchhof, der das Dorf beherrscht. Weiter südlich in die Artilleriemulde
stoßen Bayern, Württemberger und Elsaß-Lothringer, mitten
unter den Schützen die Kanoniere. Der erste will jeder sein, die
Waffe, die ihm sein Kriegsherr anvertraut, die überlegene Kraft ihm
entriß, wiederzugewinnen. Diesmal gelingts . Unser sind die Kanonen,
unser die angeketteten schweren Haubitzen. Und westlich der Mulde gräbt
sich die zerfetzte Schützenlinie ein, hinter sich die überrannte
erste französische Linie lassend.
Bot hier die tiefe Mulde einigen Feuerschutz, so fehlte er weiter südlich,
wo die Sachsen vordrangen. Mit schweren Verlusten nur konnte das tapfere
Regiment die Höhe 123 stürmen und halten. Ihr zum Schutz unserer
Artilleriebeobachter notwendiger Besitz lohnte die Opfer.
Auch in Neuville bringt der Kampf Mann gegen Mann, Haus um Haus uns Gewinn.
Vor allem aber hat unser Angriff am Abend des 10. Mai den Franzosen gezeigt,
daß wir nicht gewillt waren, ihre Angriffe in der Verteidigung zu
erdulden, sondern daß die an Zahl so schwache Truppe sich nicht
scheute, selbst anzugreifen.
Die Eigenschaft, die den Sieg im Kriege verbürgt, den eisernen Willen,
unsere Führer und Truppe hatten sie bewiesen.
Die nächste Sorge der Führung bildete Carency. Fast einer Insel
gleich, umbrandet von wilder, an den Gestaden fressender See, lag dieses
Dorf vor unserer Front. Auf der Lorettohöhe zwar erreichte der Einsatz
der Sachsen Erfolge. Einige Gräben nahmen sie zurück. Am Morgen
des 11. befreiten sie dadurch die badische Kompagnie, die seit zwei Tagen,
rings vom Feinde umschlossen, unter schwersten Verlusten und Entbehrungen
ihre Stellung gehalten hatte. Als einziges Getränk hatte sie das
Kühlwasser der Maschinengewehre benutzen können, da auf der
kalkigen Höhe Brunnen fehlten.
Südlich der Lorettohöhe gelang es an demselben Vormittag badischen
Grenadieren, Moulin Malon und die beiden dort am 9. Mai von den Franzosen
genommenen Feldkanonen zurückzuerobern. Doch eine gesicherte Verbindung
zwischen Carency und Souchez war damit noch nicht erreicht. Auf der Höhe
westlich des .Kirchhofs Souchez weiter vorzudringen war nicht geglückt.
Die Frage, ob Carency geräumt werden sollte, konnte gestellt werden.
Die Antwort fiel dem Soldaten leicht, dem Menschen schwer. Das Opfer der
tapferen Besatzung war notwendig. Denn solange wir den Ort hielten, verzögerten
wir das Vorwärtskommen des Feindes und nahmen ihm schwere Blutopfer
ab. Das aber war hier unser Gefechtszweck.
Durch den Einsatz weiterer Kräfte die Verbindung dorthin zu verbessern,
war die Absicht. Sie konnte nicht zur Ausführung gelangen, da am
11. Mai nachmittags wieder große französische Angriffe erfolgten.
Nach heftigster Beschießung durch Artillerie griffen die 17. französische
Infanteriedivision und Teile der 58. zwischen der Straße Hulluch-Vermelles
und Lens-Mazingarbe in breiter Front an; den vordersten Wellen folgten
dichte Kolonnen. Vor unseren Hindernissen brachen sie im Feuer unserer
Geschütze und Gewehre zusammen. Noch einmal erneuerten frische Truppen
in gleicher Form den Versuch, nur um ebenso zu scheitern. "Das französische
Regiment Nr. 125 ist erledigt" konnten die Badener melden. Gefangene
des IX. französischen Armeekorps, die später gemacht wurden,
gaben an, daß die 17. Infanteriedivision an diesem Tage 6000 Mann
hat liegen lassen.
Auch auf der Lorettohöhe setzte das französische XXI. Armeekorps
zum Angriff an. Er brach zusammen. Am gewaltigsten tobte jedoch die Schlacht
am 11. Mai nachmittags südlich von Carency. Zwischen diesem Dorf
und der Scarpe einheitlich vorzubrechen, war die Absicht des Feindes.
Schwerstes Artilleriefeuer aus allen Geschützen leitete sie ein.
Doch durch die Wand von Rauch und Feuer hindurch sah unsere Artillerie
aus dem Wäldchen südlich Carency und aus den Trümmern von
La Targette die Massen vorbrechen. Unter den Garben unserer Schrapnells
zerstob die französische 77. Division und was von der marokkanischen
Division noch mit angriff. Was hier Kanone und Haubitze leisteten, das
fiel von Roclincourt nach Süden dem Gewehr zu. Trotzdem hier das
XVII. und X. Armeekorps in dichten Scharen bis an die durch das französische
Artilleriefeuer stark zerstörten Hindernisse herankam, trotzdem die
bayerische Grabenbesatzung durch die Beschießung stark gelitten
hatte, sanken die stürmenden Regimenter vor unserer Linie niedergemäht
zu Boden, ohne irgendwo einzudringen.
Einzig und allein bei und südlich Neuville, wo man schon in engster
Gefechtsberührung stand, kam es zu Nahkämpfen. Sechs französische
schwere Minenwerfer feuerten in diesem Orte seit dem heutigen Morgen schon
auf die von uns besetzten Häusergruppen; nichts diesem gewaltigen
Nahkampfmittel Gleichwertiges hatten wir an dieser Stelle entgegenzusetzen.
Da sieht in dem durch uns wiedergewonnenen Ortsteil der Adjutant eines
thüringischen Bataillons, ein Reserveoffizier der Feldartillerie,
eine bayerische Feldkanone. Am 9. Mai hatten die Kanoniere sie verlassen
müssen, Verschluß und Munition aber vorher versteckt. Auch
diese findet der Offizier. Mit zwei Infanteristen bedient er auf das wirksamste
diese Feuerwaffe im Häuserkampf, mit ihr tritt er auch dem Nachmittagsangriff
entgegen. In Neuville selbst kann der Angriff zu keinen großen Ergebnissen
führen. Ob das eine oder andere Haus mehr dem Feinde zufällt,
das entscheidet keine Schlacht. Aber aus dem Dorf heraus gegen Thélus
möchten die Franzosen vordringen. Hier liegt 200 Meter östlich
Neuville der Kirchhof, mit Mauern umgeben, in freiem Felde. 80 Mann des
anhaltischen Bataillons, das hier kämpft, halten ihn besetzt. Gegen
3 Uhr nachmittags sehen sie südlich Neuville starke viergliedrige
Schützenlinien, denen dichtauf Unterstützungen folgen, vorgehen.
Unser Feuer weist den Feind ab. Noch nicht 4 Uhr ist es, da greift von
Südwesten Infanterie an, und auf der Straße aus Neuville heraus
brechen Turkos hervor mit Handgranaten. Im raschen Lauf wollen sie die
kurze Strecke zurücklegen und den Verteidiger überrennen. Kaltblütig
schießen unsere Musketiere die Feinde nieder. Die sehen, so geht
es nicht. Man muß andere Mittel holen. Artillerie und Minenwerfer
setzen ein, Grabsteine splittern, Kreuze , Kränze und Särge
werden zerrissen , die Besatzung fast vernichtet. Um ½7 Uhr abends
beschließt der Kompagnieführer den Rückzug. Nicht weit
geht es, nur gerade aus der Geschoßgarbe heraus. Freiwillig aber
bleiben ein Unteroffizier und zwei Mann zurück, um in der Westspitze
des Kirchhofs mit Handgranaten die Kameraden zu decken und für sie
Zeit zum Eingraben zu gewinnen. Dann erst kann der Feind nachdringen,
um einer neuen lebenden Mauer gegenüberzustehen.
Im Labyrinth sind noch dieselben Truppen, die dort am 9. Mai gekämpft
haben. Auch sie haben nur mehr eine bei Tag nicht gangbare Verbindung
nach rückwärts. Wie es bei Neuville steht, ahnen sie nicht.
Sie sehen dort nur Rauchschwaden und Flammen. Ob wir das Dorf besitzen
oder der Feind, ist ihnen nicht bekannt; ob sie im Osten schon abgeschnitten
sind, sie wissen es nicht. Von allen Seiten hageln Granaten, Minen, Infanteriegeschosse
in die Trümmer, die einst ihre Gräben waren. Von West, Nord
und Süd versuchen die Franzosen vorzudringen. Das Regiment hält
aus und erfährt am Abend, daß der große feindliche Angriff
abgeschlagen ist, daß die Kameraden durchgehalten haben.
So war an diesem Dienstag, einem herrlichen, warmen Sommernachmittage,
der zweite gewaltige Ansturm der Franzosen zusammengebrochen. Was sie
gewollt, ergab ein Befehl, den ein östlich Grenay gefangener Offizier
bei sich trug. Hiernach rechnete General Joffre unbedingt damit, daß
am heutigen Tag Loos, am folgenden Freitag die große Kohlenstadt
Lens in die Hände seines linken Flügels fallen müsse. Die
Abendmeldungen dürften den französischen Oberbefehlshaber etwas
enttäuscht haben. Statt der Nachricht eines Erfolges werden sie die
Kunde erhalten haben, daß die französischen Truppen zu einem
großen einheitlichen Angriff für die nächste Zeit überhaupt
unfähig seien.
Daher finden wir in den folgenden vierzehn Tagen eigentlich nur mehr an
zwei Stellen Kämpfe, in der Gegend der Lorettohöhe und bei Neuville.
Aber was die Schlacht damit an Ausdehnung eingebüßt hatte,
das verlor sie durchaus nicht an Heftigkeit. Immer wieder vermochten die
Franzosen auf diesen schmalen Fronten neue, teils ganz frische, teils
lange ausgeruhte Kräfte heranzuziehen. Zum erstenmal traten in diesen
Kämpfen das III. französische Armeekorps, die 53. und 55. Infanteriedivision
uns hier gegenüber. Zwar trafen auch auf deutscher Seite einige Verstärkungen
ein, doch weder Infanterie noch Artillerie konnte sich an Zahl mit dem
Gegner messen. Diese zählte außerdem beim Feinde besonders
viel schwere Kaliber und wurde durch eine anfänglich weit überlegene
Luftaufklärung unterstützt. Trotz größtem Schneid
vermochten unsere Flieger mit den vorerst zu Gebote stehenden Maschinen
den schwer bewaffneten Kampfflugzeugen der Franzosen nicht gleichwertig
entgegenzutreten.
Die Kämpfe im einzelnen zu schildern, ist hier nicht der Platz.
In den Regimentsgeschichten der beteiligten Truppen werden diese Tage
eine Glanzzeit des Heldentums und der Entsagung sein. Gerade hier zeigte
der einzelne, was er wert war. Ein Leutnants- und Soldatenkrieg spielte
sich in den Gräben und Ruinen ab.
Vergeblich versuchte man am 12. Mai die Verbindung mit Carency zu verbessern.
Moulin Malon, das die Franzosen wiedergenommen haben, wird am Morgen erneut
erobert, aber ein Angriff bayerischer Jäger am Abend vom Kirchhof
Souchez aus auf dem Höhenrande mißlingt.
Und zu dieser Zeit erfüllt sich das Schicksal der tapferen Verteidiger
von Carency. Noch einmal hat in der Nacht vorher niederrheinische Landwehr
sie mit einiger Verpflegung und Munition versehen, dann aber ist der Feind
auf der Höhe 125 nördlich des Dorfes durchgebrochen. Einige
Häusergruppen sind in seiner Hand. Bei Einbruch der Dunkelheit dringen
von Osten Zuaven ein und reichen den Sturmkolonnen der anderen Fronten
die Hand. Die letzten Tapferen fallen in Feindesgewalt. Gleichzeitig nimmt
der Feind wieder Moulin Malon. Damit ist der Besitz des Hauptteils von
Ablain wertlos geworden. Der hier kommandierende General befiehlt, das
Dorf bis zur Kirche zu räumen, wo Anschluß an die Lorettostellung
ist. Ohne gedrängt zu werden, gelingt den Badenern die schwierige
Ausführung. Auch oben auf der Lorettohöhe nahm der Feind an
diesem Tage die Steinhaufen, der die Reste der Kapelle darstellte. Weitere
Vorstöße von dort herab führten zur Vernichtung der Franzosen.
Ein tapferes schlesisches Reserveregiment konnte sogar im Sturm in der
Nacht vom 14. auf den 15. Mai wieder einen Teil der Gräben auf der
Höhe nehmen, nachdem am Abend ein Angriff von fünf französischen
Bataillonen an der Straße Souchez - Aix-Noulette abgewiesen wurde.
Nur wer die Lorettohöhe gesehen hat, kann ermessen, was unsere Truppen
in diesen Kämpfen geleistet haben. Vor allem aber versteht es der
zu würdigen, der sie kennt aus der Oktoberzeit vorigen Jahres, als
die stattliche Allee von Souchez nach Aix-Noulette mit ihren mächtigen
belaubten Baumkronen zwischen den in den glänzenden Farben des Herbstlaubes
prangenden Gehölzen an der Höhe entlang führte, auf der
zahlreiche lebende Hecken die Steilabfälle besetzten und die Grenzen
frisch bestellter Felder bildeten. Und jetzt im Frühling kein Laub
mehr an diesen Hecken und Bäumen, von denen nur einzelne Stümpfe
in die Luft ragen, grau und kahl, ohne Graswuchs liegt die Höhe da,
ein Trichter schwerer Geschosse und Wurfminen liegt neben den anderen!
Wo sie tiefer eingedrungen sind, da haben sie den Kalkstein aufgewühlt
und weiße Flecke hingeworfen auf den Berghang. Die weißen
Striche der Schützen- und Laufgräben aber sind fast verschwunden,
denn das feindliche Feuer hat gut gearbeitet, unsere Leute jeden Schutzes
zu berauben. Von dem, was einst ein Waldstück östlich der großen
Straße war, zieht eine Mulde gegen die Kapelle hinauf. "Schlammulde"
hieß sie bezeichnenderweise auf unseren Karten; redlich hatte sie
sich im feuchten Winter Nordfrankreichs diesen Namen verdient. Als gedeckter
Annäherungsweg auf die Höhe war sie damals unersetzlich. In
ihr hatte deutsche Pietät den zahlreichen gefallenen Kameraden dicht
am Feind schön geschmückte Kirchhöfe errichtet. Nun rissen
die feindIichen Granaten unsere Helden aus der Ruhe. Die Schlammulde bildete
nach dem Verluste der Kapelle die Hauptverteidigungsstellung unserer Infanterie
auf dem Osthang der Lorettohöhe. Nicht nur mit Front nach Nordwesten,
sondern auch gegen die Höhe zu und bald mit Front nach Südosten
ward dieser schmale, von allen Seiten durch Feuer umfaßte, von der
Kapelle der Länge nach bestrichene Raum zum Brennpunkt des Kampfes.
Eine Hölle war es für die badischen, sächsischen und schlesischen
Truppen, die hier standen und, fortwährend beschossen, Tag und Nacht
angegriffen, ohne Wasser und ohne warme Nahrung aushielten. Aber sie haben
nicht nur ausgehalten, immer wieder gingen sie zum Angriff vor, brachten
täglich Gefangene ein, am 18. Mai sogar zwei Maschinengewehre. Trefflich
unterstützte sie unsere brave Artillerie in dieser schweren Zeit,
zum Ruhmesfeld vollends wurde die Lorettohöhe für unsere Pioniere.
Was diese Truppe in opfermütiger Arbeit, in heldenhaftem Kampfe hat
geleistet hat, wird unvergeßlich bleiben.
Dieselbe Rolle spielte südlich der Lorettokapelle der sogenannte
"Barrikadenweg", der von der Höhe gegen die Kirche von
Ablain herabführt. Seine Verteidiger befanden sich in nicht besserer
Lage als die Kameraden in der Schlammulde. Ja sie wurde sogar noch schlechter,
als die feindliche Stellung bei den Ruinen der Kapelle stärker wurde.
Von hier aus kam man in den Rücken der deutschen Gräben. Immer
wieder versuchten es die Franzosen. Am 21. Mai gelang es. Der Barrikadenweg
fiel in ihre Hand.
Anders spielte sich bei Neuville die Schlacht ab. Der Häuserkampf
nahm hier einen besonders hartnäckigen Charakter durch eine Eigenart
des Dorfes an. Unter ihm durchfurchten das Kalkgestein die Gänge
und Höhlen alter Bergwerke. Als Unterstände ausgebaut, boten
sie selbst gegen schwere Beschießung sicheren Schutz. Deutsche und
Franzosen nützten ihn aus. So konnte man wochenlang ausharren gegenüber
dem Feind, den nur eine schmale Straße von den Mauerresten trennte,
die die eigene Stellung bildeten. Minenwerfer und Feldgeschütze standen
in vorderster Linie. Immer wieder griff man mit ihrer Hilfe die Trümmerhaufen
an, ohne daß der Besitzstand wesentlich wechselte. Bayern, Badenser
und Lothringer wetteiferten in diesen Kämpfen. Jetzt kam rheinländische
Unterstützung. Der auf diesem Abschnitt des Schlachtfeldes den einheitlichen
Befehl führende General beschloß, am 22. Mai mit diesen Truppen
das Gelände zwischen Neuville und dem Labyrinth zu säubern und
möglichst viel vom Dorf zurückzuerobern. Der Abendangriff hatte
teilweise Erfolg. Einige Häusergruppen und Gräben fielen in
unsere Hand, 2 Maschinengewehre und 100 Gefangene nahm ein niederrheinisches
Regiment.
Der wichtigste Erfolg aber war, daß, wie sich ergab, man gerade
in die Vorbereitungen zu einem großen französischen Angriff
hineingestoßen war und sie erheblich gestört hatte.
Daß er bald kommen würde, wußte man ja. Stand doch Pfingsten
vor der Tür. Hohe Feste aber, das war Erfahrung, lockten den Feind
stets zum Angriff.
In der Zwischenzeit waren die Engländer nicht ganz untätig geblieben.
Von ihren Schlägen am 9. Mai hatten sie sich zwar nicht so rasch
erholt wie die Franzosen. Erst am 14. Mai veranlaßten starkes englisches
Artilleriefeuer und andere Wahrnehmungen den Kronprinzen von Bayern, Maßnahmen
gegen einen Angriff anzuordnen. Die Kunst des Verteidigers, vorauszusehen,
was der Feind will, bewährte sich.
Als nach heftigster Artillerievorbereitung am frühesten Morgen des
16. Mai zwei englische Divisionen südlich der Straße La Bassée-Estaires
angriffen, waren die vom Oberkommando entsandten Verstärkungen bereits
im Eintreffen hinter der dünnen Linie begriffen, die bisher hier
gestanden war. Die Brustwehren der wegen des Grundwassers nur 40 Zentimeter
in den Boden zugeschnittenen Gräben hatte das Artilleriefeuer hinweggefegt.
Trotzdem schlug ein westfälisches Bataillon in der Mitte der Angriffsfront
den Sturm ohne weiteres ab, rechts und links davon brach der weit überlegene
Feind durch. Seinen Massen gegenüber versuchten tapfer, aber vergeblich
sächsische Bataillone den Feind zurückzuwerfen. Gewaltiges Artilleriefeuer
brachte ihn zum Stehen. Der hier kommandierende General befahl dem vereinzelt
vorne stehenden Bataillon am 17. Mai, die unhaltbar gewordene Stellung
zu räumen. So nahmen die Engländer am Wald südlich Neuve-Chapelle
bis La Quinque Rue 3 Kilometer unserer vorderen Stellung in Besitz, aber
dicht dahinter, in der zweiten Linie, standen die Unseren. Weiter nördlich
war jeder Versuch vergeblich gewesen. Unter dem Gesang der Wacht am Rhein
hatten die Westfalen dort die Sturmkolonnen niedergeschmettert und waren
keinen Schritt abwichen, als ihre Nachbarn zurück mußten.
Teilangriffe am 17. und große Stürme am 18. Mai gegen unsere
zweite Linie hatten auf der ganzen Front denselben Mißerfolg. Mit
großer Tapferkeit, aber in ungelenken dichten Massen versuchte die
englische Infanterie uns zu überrennen. Wie musterhaft unsere Artillerie
mitwirkte, beweist ein schriftlicher Dank, den die Musketiere eines westfälischen
Infanterieregiments den Kanonieren ihres Nachbar-Feldartillerieregiments
zusandten. Es hatte seine volle Pflicht getan. Dreimal wurde ein Offizier
verwundet, ohne daß er seine Geschütze verließ. Trotzdem
war der Kampf nicht leicht. Schwere Verluste erlitt das meist aus Lippe
stammende Infanterieregiment bei der Abwehr der Engländer. Singend
aber rückte es nachts nach zehntägigem Halten in vorderer Linie
in die Ablösungsquartiere und stand am nächsten Morgen zusammengeschmolzen
und zerrissen, aber siegesbewußt und ungebrochen in Parade vor seinem
Landesherrn.
Weiter südlich hatten pfälzische Bataillone und hannoveranische
Landwehr wiederholte Stürme abgeschlagen.
Dasselbe Schicksal fanden die Wiederholungen der englischen Angriffe,
die aber erst am 21. Mai einsetzten und besonders heftig in der folgenden
Nacht fortdauerten. Eine indische Brigade griff östlich Richebourg
l´Avoué an, 50 bis 60 Gurkhas von ihr drangen in ein Einzelgehöft
ein und wurden niedergemacht. Nur fiel ein kleines Grabenstück gegenüber
Festubert in Feindeshand.
Die Kraft zu wirklich großen Offensivstößen der hier
versammelten englischen Armee hat damit aber überhaupt ihr Ende gefunden.
Das I., IV. englische und das indische Armeekorps hatten sich eine Schlappe
geholt, die ihr Gehalt an innerer Kraft nicht mehr zu überwinden
vermochte.
Wieder konnte in diesem vierzehntägigen Zeitabschnitt General Joffre
ebensowenig wie am 9. Mai zufrieden sein mit dem, was seine Verbündeten
geleistet hatten. Die Erfolge der Engländer waren gering. Nicht einmal
einen einzigen deutschen Soldaten hatten sie von dem Punkt weggezogen,
an dem Frankreich das Schicksal des Krieges noch immer zu wenden hoffte.
Jetzt, vierzehn Tage nach Beginn der Schlacht, hatte es 20 starke Infanteriedivisionen
zur Stelle, große Kavalleriemassen zur Ausnutzung des Durchbruchs
dahinter bereit.
Noch herrschte, so sagten die Gefangenen aus, Zuversicht in den französischen
Reihen, daß der Durchbruch gelingen würde. Noch war der französische
Führer nicht bereit, seinen Plan aufzugeben.
Es bedurft neuer Beweise deutscher Kraft und deutschen Heldenmuts, ihn
davon zu überzeugen, daß sein Spiel verloren war.
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